Die öffentliche Bestellung gehört zu den Grundlagen des deutschen Rechtssystems. Über § 36 der Gewerbeordnung hat der Gesetzgeber sichergestellt, dass jederzeit ein qualifizierter Sachverständiger zur Verfügung steht. Ohne das Gutachten eines qualifizierten Sachverständigen wäre es in den meisten Verfahren für den Richter kaum möglich ein gerechtes Urteil zu fällen. Während der Richter als Rechtsexperte zwar eine rechtliche Beurteilung abgeben kann, kann er den Sachverhalt meist nur über Gutachten richtig einschätzen. Da die Legislative auf die Arbeit der Sachverständigen angewiesen ist, musste der Gesetzgeber durch Gesetz (§36 GewO) sicherstellen, dass Sachverständige tätig werden müssen und dies auch gegen eine angemessene Gebühr tun.
Mit der öffentlichen Bestellung wird garantiert, dass der bestellte Sachverständige jederzeit und für jedermann, gegen angemessene Gebühr tätig werden muss. Durch die Übertragung der Bestellung auf die Kammern als Bestellkörperschaften, konnten sich Gesetzgeber und Rechtsprechung dieser Aufgabe entledigen.
Die Kammern entscheiden gemäß der geltenden Sachverständigenordnung über die öffentliche Bestellung des Sachverständigen. Qualifikation und Zuverlässigkeit des Sachverständigen spielen dabei eine Rolle. Häufig sind jedoch auch die individuelle Einschätzung des Sachbearbeiters, das Bestehen von Prüfungen und die Zahlung von hohen Gebühren Hürden auf dem Weg zur öffentlichen Bestellung. Obwohl der Verbraucher vielfach davon ausgeht, dass die öffentliche Bestellung eine Garantie für Seriosität und Kompetenz ist, ist diese Einschätzung falsch. Eine Garantie für die Qualifikation eines Sachverständigen gibt es weder bei der öffentlichen Bestellung noch bei einer Zertifizierung oder bei einem freien Sachverständigen.
Das öffentliche Ansehen, aber auch die Regelung des § 404 Abs.2 ZPO waren lange Zeit der Grund dafür, dass die öffentliche Bestellung als erstrebenswert eingestuft wurde. Dabei wurde und wird gänzlich ignoriert, dass es sich bei § 404 Abs. 2 ZPO um eine reine Ordnungsvorschrift handelt. Der Richter ist in der Auswahl des Sachverständigen völlig frei.
Hohe Gebühren, ein hoher Aufwand, eine zum Teil willkürliche Handhabung und eine fehlende Überwachung der Sachverständigen durch die Kammern, wurden dem Modell „öffentliche Bestellung“ oft nachgesagt. Änderungen der Sachverständigenordnung, wie die zeitliche Begrenzung der öffentlichen Bestellung und die Altersbegrenzung haben dazu geführt, dass die Kritiker weiteren Aufwand bekommen haben.
Mit der Umsetzungsrichtlinie (Gesetz zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Gewerberecht (BGBL. I 2009 S. 2091) und dem Streichen von Hinweisen auf die öffentliche Bestellung in einigen Gesetzen (z.B. BewG, InvG (§ 77 Abs.2), PfandBG) hat der Gesetzgeber auf die Entscheidung der Europäischen Union reagiert, die europaweite Qualifikation von Sachverständigen über eine Norm zu regeln. Damit hat sich die EU explizit gegen die Übernahme des Deutschen Modells „öffentliche Bestellung“ und für einen freien Markt entschieden. Über die europaweite Anerkennung der Norm EN ISO/IEC 17024 hat die EU das in Deutschland geltende Monopol der Kammern bei der Zulassung von Sachverständigen endgültig gebrochen.
Obwohl die Kammern sich immer noch krampfhaft bemühen, das Modell öffentliche Bestellung hochzuhalten und die scheinbaren Vorteile herauszustellen, wissen Insider längst, dass durch die EU Gesetzgebung auch in Deutschland eine neue Ära eingeläutet wurde. Die Zulassung der Norm als DIN Norm, der Erlass der EU-Dienstleistungsrichtlinie DLR und der EU Berufanerkennungsrichtlinie BAR sowie die Anpassung diverser Deutscher Gesetze sind vermutlich nur die ersten Schritte einer weitreichenden Veränderung. Obwohl die Kammern für den Erhalt der öffentlichen Bestellung und damit auch um den Bestand von Prestige, Einnahmen und Einfluss kämpfen, wird die Bedeutung der öffentlichen Bestellung in den nächsten Jahren abnehmen. Voraussichtlich wird die öffentliche Bestellung das Schicksal weiterer Deutscher Errungenschaften teilen. Nachdem das angesehene Deutsche Diplom mittlerweile dem internationalen Bachelor oder Masters Abschluss weichen musste, wird dieses Schicksal auch die öffentliche Bestellung irgendwann ereilen.
Der europäische Markt und die europäische Gesetzgeber bestimmen immer mehr das Leben und Handeln in Europa. Dieser Entwicklung wird sich auch die öffentliche Bestellung eines Tages beugen müssen. Viele frustrierte Sachverständige, denen man aus nicht nachvollziehbaren Gründen die öffentliche Bestellung verweigert hat, werden diese Entwicklung begrüßen und können nun über eine Zertifizierung auf der Grundlage der DIN EN ISO/IEC 17024 eine gleichwertige Qualifikation erlangen, ohne von der Willkür eines Sachbearbeiters oder eines Prüfungsausschusses abhängig zu sein. Denn bei der Zertifizierung kann der Sachverständige zumindest wählen, wo er sich zertifizieren lassen möchte. Diese Freiheit und die gesetzlich garantierte Gleichstellung von öffentlicher Bestellung und Zertifizierung (Din EN ISO/IEC 17024) eröffnen neue Möglichkeiten und Chancen.